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Geduld ist eine Tugend – oder etwa nicht?

Geduld ist eine Tugend – oder etwa nicht?

16.12.2025 | Geduld gilt landläufig als Tugend. Als etwas, das man haben sollte, weil es reif wirkt und sozial meist erwünscht ist. Doch unabhängig von dieser eher moralischen Perspektive stellt sich eine andere, viel alltagsnähere Frage: Was hat Geduld mit gesunder Selbstführung zu tun? Und mit der Art, wie wir durch unsere Tage gehen?

Geduld wird im Alltag ständig abgefragt. An der Kasse, wenn es stockt. Im Straßenverkehr, sobald jemand vor uns langsamer fährt, als erlaubt, eine Lieferung sich verzögert oder eine Rückmeldung ausbleibt. Auch wenn die Situationen sich unterscheiden, ist das Muster gleich: Geduld wird immer dann relevant, wenn wir warten müssen. Wenn etwas jetzt passieren soll, wir jetzt etwas haben oder wissen möchten – und gleichzeitig erleben, dass wir keinen direkten Einfluss darauf haben.

Ungeduld entsteht in diesen Momenten selten aus Unreife, sondern aus Aktivierungsenergie. Wir wollen handeln, entscheiden, weitermachen. Unser Körper ist wach, das Denken nach vorne gerichtet. Und dann passiert – nichts.

Dieses Stocken bleibt nicht auf der gedanklichen Ebene. Es zeigt sich auch körperlich und emotional als Unruhe, als Druck und als dieses schwer auszuhaltende Gefühl, festzustecken. Genau hier wird Geduld zu einem zentralen Thema gesunder Selbstführung. Denn sie entscheidet darüber, ob wir diese Zwischenzeiten innerlich verkrampft durchstehen – oder ob es uns gelingt, trotz Ungewissheit handlungsfähig und in einer gewissen Balance zu bleiben.

Was ist Geduld und wobei hilft sie uns?

Geduld leitet sich sprachlich vom mittelhochdeutschen gedulde ab, das wiederum auf dulden zurückgeht. Ursprünglich bedeutet es „ertragen, aushalten, hinnehmen“. Geduld ist also mehr als ein abstrakter Wert oder eine moralische Tugend: Geduldig zu sein bedeutet, einen Zustand des Wartens auszuhalten – und damit auch ein Stück Ohnmacht. Wir akzeptieren, dass wir eine Situation oder einen Menschen nicht so steuern können, dass jetzt endlich das passiert, was wir uns wünschen. Oder dass wir die Klarheit bekommen, nach der wir uns sehnen. Geduld ist deshalb eng mit dem Umgang mit Unsicherheit verbunden.

Zudem geht es nicht nur um das Warten auf etwas Angenehmens und Positives, wie bei kleinen Kindern, die gespannt auf ihre Weihnachtsgeschenke hinfiebern. Oft warten wir auf Informationen, Entscheidungen oder Rückmeldungen, die vor allem unsere Handlungsfähigkeit wiederherstellen sollen – etwa eine Antwort auf eine Bewerbung, das Ergebnis einer Untersuchung oder die Entscheidung eines Partners. Geduld bedeutet hier, innere Spannungen auszuhalten und mit belastenden Emotionen umzugehen.

Geduld ist somit eine wichtig Selbstkompetenz. Sie hilft uns, die eigene Balance zu wahren, handlungsfähig zu bleiben und Beziehungen nicht unnötig zu belasten – beruflich wie privat. Sie eröffnet zudem die Möglichkeit, auch in Wartezeiten kleine, stimmige Momente im Hier und Jetzt wahrzunehmen.

Geduld ist also nicht bloß passives Ausharren, sondern eine Form aktiver Selbstregulation, die uns erlaubt, gelassen zu bleiben, während wir auf Dinge warten, die außerhalb unserer direkten Kontrolle liegen.

Die Neurobiologie der Geduld

Geduld ist aus neurobiologischer Sicht kein Zustand, sondern ein innerer Prozess. Immer dann, wenn wir warten müssen, läuft im Gehirn ein komplexes Zusammenspiel mehrerer Systeme ab, die darüber entscheiden, ob wir innerlich ruhig bleiben – oder ob Ungeduld, Druck und Reizbarkeit die Oberhand gewinnen.

Nehmen wir ein ganz alltägliches Beispiel: Du hast ein Sofa bestellt. Du freust dich darauf und hast eine genaue Vorstellung, wie alles aussehen wird. Dann verzögert sich die Lieferung. Zwei Wochen werden zu vier, aus „kommt bald“ wird „wir melden uns“. Objektiv ist nichts Dramatisches passiert – neurobiologisch allerdings schon.

In dem Moment, in dem sich die Lieferung verzögert, springt die Amygdala an. Sie reagiert nicht nur auf klassische Gefahren, sondern ganz grundsätzlich auf Unsicherheit, Kontrollverlust und Abweichungen von Erwartungen. Dein Gehirn hat mit dem Sofa gerechnet. Es war innerlich bereits verbucht. Dass es nun nicht da ist, erzeugt eine Art Alarm: Etwas stimmt nicht, der Plan geht nicht auf. Dieser Alarm äußert sich als innere Unruhe, Ärger oder latente Anspannung, die körperlich spürbar ist, noch bevor wir einen klaren Gedanken dazu fassen.

Gleichzeitig ist das Belohnungssystem betroffen. Das Sofa steht für Vorfreude, Komfort, ein gutes Gefühl. Normalerweise schüttet das Gehirn bei Aussicht auf eine Belohnung Dopamin aus – ein Neurotransmitter, der Motivation und Erwartung antreibt. Bleibt die Belohnung aus oder verzögert sich, entsteht ein neurobiologischer Spannungszustand: Das System ist aktiviert, bekommt aber keinen Abschluss. Genau das macht Warten so unerquicklich. Nicht, weil wir verwöhnt sind, sondern weil unser Gehirn auf „Belohnung in Sicht“ eingestellt ist und nun in der Luft hängt.

An dieser Stelle kommt der präfrontale Kortex ins Spiel. Er ist zuständig für Einordnung, Impulskontrolle und Selbstregulation. Hier entscheidet sich, ob wir die innere Spannung aushalten können oder ob wir impulsiv reagieren – mit Ärger, Vorwürfen, hektischem Aktionismus oder gedanklichem Kreisen. Geduld entsteht genau in diesem Spannungsfeld: Die Amygdala meldet Alarm, das Belohnungssystem drängt auf Erfüllung, und der präfrontale Kortex versucht, Ordnung in dieses innere Durcheinander zu bringen.

Menschen unterscheiden sich darin, wie gut ihnen diese Regulation gelingt. Wer gelernt hat, mit offenen Enden umzugehen, kann die Aktivierung halten, ohne sofort handeln zu müssen. Wer stark auf schnelle Belohnung geprägt ist, erlebt Wartezeiten deutlich intensiver.

Die gute Nachricht: Geduld ist neurobiologisch formbar. Immer dann, wenn wir in einer Wartephase bewusst regulierend eingreifen – etwa durch Umfokussierung und das bewusste Wahrnehmen anderer angenehmer Aspekte im Jetzt –, stärken wir die präfrontalen Netzwerke. Gleichzeitig beruhigt sich die Amygdala, und das Belohnungssystem lernt, dass Vorfreude nicht automatisch Frust bedeuten muss, wenn sie sich nicht sofort erfüllt.

Geduld ist damit kein Charaktermerkmal und keine moralische Disziplinleistung. Sie ist ein aktiver Regulationsprozess im Gehirn. Und genau deshalb lässt sie sich üben, stärken und kultivieren – mitten im ganz normalen Alltag.

Geduld in Zeiten von Tempo und sofortiger Verfügbarkeit

Geduld hat es in unserer Zeit nicht leicht. Sie passt schlecht in eine Welt, die Schnelligkeit belohnt und Langsamkeit schnell mit Ineffizienz verwechselt. Gerade im beruflichen Kontext gelten Tempo, Reaktionsfähigkeit und Entscheidungsfreude als zentrale Kompetenzen. Wer zögert, gilt als unsicher. Wer abwartet, als zu langsam. Geduld zu propagieren klingt da schnell nach Vollbremsung – nach jemandem, der Meetings verlängert, Prozesse verzögert und die Dynamik rausnimmt.

Diese Logik bleibt nicht auf die Arbeit beschränkt. Sie prägt unseren gesamten Alltag. Wir leben in einer Kultur der sofortigen Verfügbarkeit. Pakete kommen am nächsten Tag oder noch am selben. Bücher stehen in Sekunden auf dem Kindle zur Verfügung. Ein Abendessen lässt sich bei Lieferando bestellen, ein Date für den Abend am Nachmittag über das Datingportal organisieren, ein Möbelstück per eBay-Kleinanzeigen auch am Sonntag besorgen. Das Versprechen lautet: Wenn du etwas willst, kannst du es jetzt haben.

Vor diesem Hintergrund ist Ungeduld kein persönliches Versagen, sondern eine naheliegende Reaktion. Unser Gehirn hat gelernt, dass Wünsche oft unmittelbar erfüllt werden. Muss es plötzlich warten, gerät dieses erlernte Muster ins Wanken. Geduld fühlt sich dann nicht nur ungewohnt an, sondern regelrecht widersinnig – als würde man absichtlich auf der Bremse stehen, obwohl der Weg frei ist.

Der Geduldsfaden – warum er nicht unendlich sein sollte

Auch wenn wir in einer Zeit der Schnelligkeit und sofortigen Bedürfnisbefriedigung leben, gilt Geduld weiterhin als Tugend – als Zeichen von Reife, Souveränität und emotionaler Kompetenz. Genau zwischen diesen beiden Polen stellt sich die Frage: Wann ist Geduld angesagt und hilfreich? Und gibt es Situationen, in denen sie uns eher schadet als nützt?

Denn Geduld hat auch eine Schattenseite. Nehmen wir das Beispiel einer Bewerbung. Wenn dein innerer Leitsatz lautet: Die Personalabteilung wird sich schon melden, wenn sie soweit ist, wartest du womöglich wochenlang – höflich und verständnisvoll. Vielleicht ist deine Bewerbung jedoch im Spamordner gelandet oder schlicht untergegangen. Fragst du erst spät nach, ist die Stelle unter Umständen längst vergeben.

Ähnlich zeigt es sich im privaten Bereich. Wer geduldig darauf wartet, dass der Partner oder die Partnerin endlich den Urlaub für eine geplante Reise einreicht, um nicht zu drängen, stellt womöglich fest, dass die günstigen Flüge inzwischen weg sind. Was als Rücksicht gemeint war, wird zum handfesten Nachteil.

Nicht selten wird Geduld auch ausgenutzt. Menschen spüren sehr genau, mit wem sie sich Zeit lassen können. Wer dauerhaft verständnisvoll wartet, sendet mitunter das Signal: Es eilt nicht. Ein typisches Beispiel ist der Kollege, der Rückmeldungen immer wieder verschiebt, weil er gelernt hat, dass auf der anderen Seite kein zeitlicher Druck entsteht.

In solchen Momenten kann es wichtig sein, dass der Geduldsfaden reißt. Nicht als impulsiver Ausbruch, sondern als klares inneres Signal: Hier ist eine Grenze erreicht. Dieses Reißen bringt Bewegung ins System – entweder, weil wir selbst ins Handeln kommen, oder weil andere erkennen, dass ihr Verhalten Konsequenzen hat.

Wann dieser Punkt erreicht ist, lässt sich nicht pauschal festlegen. Oft ist es nicht der große Anlass, sondern der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Umso wichtiger ist die Selbstbeobachtung: Bin ich hier geduldig aus innerer Stärke – oder halte ich etwas aus, das längst eine klare Bewegung bräuchte?

Ein wertvolles Gespann: Geduld und Anspannung

Wenn du für dich entscheidest, deinen Geduldsfaden etwas dehnbarer zu machen – also geduldiger zu werden mit Menschen oder Situationen, die du nicht ändern kannst – dann hat das mehrere positive Effekte: Deine Beziehungen werden harmonischer, du bleibst trotz des Wartens handlungsfähig, bewahrst deine innere Ruhe und kannst deine Gefühle besser regulieren.

Gleichzeitig ist es wichtig, dass du feine Antennen dafür entwickelst, wann der Geduldsfaden kurz davor ist, zu reißen – als klare Orientierung, ab wann es sinnvoll ist, aktiv zu werden, nachzufragen oder einen anderen Impuls zu setzen. Dieses innere Gespür für den Grad der Anspannung vermittelt dir Sicherheit und hilft, die Balance zwischen Abwarten und Handeln zu finden.

Um deine Geduld zu trainieren und gleichzeitig dein Gespür für die eigene Anspannung zu schärfen, können dir folgende Ansätze – je nach Situation – helfen:

Sicherheit schaffen: Klare Absprachen, realistische Timelines und transparente Kommunikation geben deinem Gehirn Orientierung und reduzieren die Spannung beim Warten.

Zwischenräume bewusst füllen: Nutze die Wartezeit für Aktivitäten, die dich nähren, kleine Genusspunkte oder Momente des Wohlbefindens. So wird das Warten angenehmer und die innere Anspannung weniger belastend.

Körper beruhigen: Atemübungen, Bewegung oder Zeit in der Natur unterstützen den präfrontalen Kortex und senken die Aktivität der Amygdala. Dein Gehirn kann Spannungen klarer einschätzen und besser abbauen.

Fokus verschieben: Konzentriere dich auf das, was bereits da ist, anstatt auf das, was fehlt. Das stabilisiert die Wahrnehmung und reduziert Frustration.

Achtsamkeit üben: Nimm bewusst wahr, wie stark deine innere Anspannung in der jeweiligen Situation ist – körperlich, emotional und gedanklich. Dieses bewusste Messen des eigenen Spannungsgrades hilft dir, einzuschätzen, wie lange du geduldig bleiben und wann du einen Impuls setzen möchtest.

Übung: Geduld gezielt aufbauen

Zusätzlich zu den obigen Ansätzen kannst du auch ganz gezielt im Alltag trainieren: Wähle eine wiederkehrende Situation, in der du warten musst und die dich regelmäßig stresst und ungeduldig werden lässt. Zum Beispiel der Klassiker: die Schlange an der Kasse.

Wenn du in der Situation bist:

  1. Entscheide dich aktiv fürs Warten: Sage dir innerlich: Ich warte jetzt bewusst. Nicht aus Ohnmacht, sondern als Training.
  2. Lenke deine Aufmerksamkeit auf deinen Körper: Wo zeigt sich Ungeduld konkret? Druck im Brustraum, Hitze, flacher Atem, innere Unruhe? Nimm die Intensität wahr, ohne sie verändern zu wollen.
  3. Nimm Ablenkungsimpulse wahr – und widerstehe ihnen:Vielleicht willst du zum Handy greifen, gedanklich abschweifen oder dich innerlich beschäftigen, um die Wartezeit zu verkürzen. Registriere diesen Impuls bewusst und entscheide dich, ihm nicht zu folgen. Du bleibst bei der Situation.
  4. Beobachte den Verlauf: Bleibt die Anspannung gleich, steigt sie an oder ebbt sie von selbst ab? Nimm wahr, dass Ungeduld kein Dauerzustand ist, sondern sich verändert, auch wenn du nichts tust.
  5. Beende das Warten bewusst: Wenn die Situation endet, halte kurz inne und registriere: Du hast gewartet, ohne auszuweichen oder dich innerlich zu verlieren. Das ist der Trainingsreiz.

Diese Übung trainiert Geduld dort, wo sie im Alltag tatsächlich gefordert ist: im ungefüllten Zwischenraum. Du stärkst damit deine Fähigkeit, Spannung auszuhalten, ohne sie sofort zu kompensieren – eine zentrale Ressource für wirksame Selbstführung.

Eine Übung in der Natur: Geduld im Gehen

Zum Abschluss gebe ich dir eine Übung mit, die du in der Natur durchführen kannst: die Gehmeditation.

Suche dir einen ruhigen Weg und beginne, bewusst langsamer zu gehen, als es deinem gewohnten Tempo entspricht – für den Anfang vielleicht 20 – 30 Prozent. Es kann hilfreich sein, dir für diese Übung einen Timer zu stellen, um einen klaren äußeren Rahmen zu haben. Ich schlage hier 10 Minuten vor, aber du kannst natürlich auch länger gehen.

Richte deine Aufmerksamkeit nun auf jeden einzelnen Schritt, auf den Kontakt deiner Füße mit dem Boden und auf das rhythmische Verlagern deines Gewichts. Lass das Ziel, irgendwo anzukommen, bewusst in den Hintergrund treten. Du kannst auch im Kreis gehen. Wenn Ungeduld auftaucht – als innerer Druck, als Gereiztheit oder als körperliche Unruhe –, nimm sie wahr, ohne ihr nachzugeben. Gehe weiter, Schritt für Schritt. Wenn die Zeit um ist, bleibe einen Moment stehen, schließe die Augen und beende die Übung bewusst mit einigen tiefen Atemzügen.

Geduld entsteht hier nicht durch Einsicht, sondern durch das bewusste Aushalten der Spannung im Gehen.

Ich wünsche dir nun viel Freude und Neugierde dabei, dich in Geduld zu üben – und gleichzeitig ein feines Gespür dafür zu entwickeln, wann der richtige Zeitpunkt zum Handeln gekommen ist.